"Den Einstieg von Sky empfinde ich als Gewinn"

Während etliche Stars in den vergangenen Jahren die Bundesliga Richtung Spitzenclub im europäischen Ausland verlassen haben, ist er in der Sommerpause den umgekehrten Weg gegangen: Tobias Reichmann. Mit reichlich Erfahrung im Gepäck sucht der 29-jährige Linkshänder bei der MT Melsungen eine neue sportliche Herausforderung. Und auch mit der Nationalmannschaft sind die Ziele in den nächsten Jahren hochgesteckt. Um diese zu erreichen, setzt Bundestrainer Christian Prokop auf den Rückkehrer: „Tobias Reichmann ist ein sprunggewaltiger Außen mit enormer Physis, der sich in den vergangenen Jahren technisch und taktisch gut weiterentwickelt hat. Ich persönlich freue mich sehr über seinen Wechsel zurück in die deutsche Bundesliga und verfolge seine Auftritte interessiert.”

Hallo Tobias, welche Gründe haben dich dazu bewogen, vom europäischen Spitzenclub PGE VIVE Kielce zurück in die Bundesliga nach Melsungen zu wechseln?
Tobias Reichmann: „Nach drei Jahren `Abenteuer in Polen´ war für mich die Zeit gekommen, wieder zurück nach Deutschland zu gehen. Meine Frau und Kinder sind ja schon seit einem Jahr wieder zurück in der Heimat, so dass für mich in der vergangenen Saison frühzeitig feststand, ihnen zu folgen. MT Melsungen ist für mich ein Verein mit großen Ambitionen, das Gesamtpaket hat mich überzeugt. Meine Familie und ich fühlen uns hier wohl, Verein und Mannschaft haben uns super aufgenommen. Als Trainer ist Michael Roth ein lockerer Typ, der einem Spieler viel Raum gibt, sich in Training und Spiel einzubringen. Unser Fokus liegt in diesem Jahr auf der Bundesliga mit dem Ziel, im nächsten Jahr international zu spielen. Auch wenn einige Experten uns schon um die Deutsche Meisterschaft mitspielen sehen, kommt das für uns sicher zu früh. Mit unseren vielen Neuzugängen braucht es Zeit, sich als Team zu finden. Wir müssen ein starkes Kollektiv bilden, gute Defensivqualitäten zeigen sowie durch variables Spiel im Angriff überzeugen.

Du spielst jetzt wieder in der “stärksten Handballliga der Welt“. Was macht für dich den Reiz dieser Liga aus?
Tobias Reichmann: „Die Ausgeglichenheit der Liga, jeder kann jeden schlagen. Überraschungen sind an der Tageordnung. Da gilt es als Mannschaft in sämtlichen Spielen 100 % geben, denn man kann nie sicher sein, die Punkte vor Abpfiff auf der Habenseite verbuchen zu können. Das war in Kielce ein wenig anders. Der Fokus dort lag ganz klar auf der Champions League,  in der polnischen Liga war somit mehr Regeneration möglich. Mit aktuell 11:5 Punkten können wir in Melsungen ganz zufrieden sein. Im Vergleich zum Saisonstart des vergangenen Jahres befinden wir uns jetzt in `ruhigem Fahrwasser´. Die Minuspunkte zu Beginn in Stuttgart wurden durch die Pluspunkte gegen Kiel wieder ausgeglichen.“

Bevor es für dich 2014 nach Kielce ging, hast du zuvor zwei Jahre das Trikot der HSG Wetzlar getragen und bist dort zum Nationalspieler gereift. Was zeichnet die Arbeit von HSG-Trainer Kai Wandschneider aus?
Tobias Reichmann: „Kai Wandschneiders Arbeit ist sehr akribisch durchdacht und geplant. Er kann extrem gut mit jungen Spielern umgehen und gibt ihnen das nötige Vertrauen, um die ersten Schritte in der Bundesliga erfolgreich bestehen zu können. Fehler gehören für ihn zum Lernprozess dazu. Gelingt dir in einem Spiel nicht gleich alles, darfst du trotzdem weitermachen. Kai Wandschneider hat ein unglaublich gutes psychologisches Gespür für jeden einzelnen Spieler. Da kommt ihm sein Wissen aus seinem Psychologiestudium sicher entgegen. Jede Saison steht er in Wetzlar wieder vor der Aufgabe, sieben bis acht teils junge und bundesliga-unerfahrene Spieler in seine Mannschaft zu integrieren. Die Erfolge der HSG Wetzlar in den vergangenen Jahren sprechen für die Qualität seiner Arbeit.“

Insgesamt drei Jahre hast du in Polen Handball gespielt. Wie wichtig ist es für dich im Nachhinein betrachtet, einmal ins Ausland gegangen zu sein um dort klar zu kommen?
Tobias Reichmann: „Als junger Mensch ist es natürlich immer ein großer Schritt, sein gewohntes Umfeld zu verlassen, um in einem fremden Land mit anderer Sprache bei einem neuen Verein zu bestehen – weil du im Vorfeld natürlich nie wissen kannst, ob es funktioniert. Mit dem heutigen Wissen aus den vergangenen drei Jahren kann ich sagen: Ich würde es auf jeden Fall immer wieder machen. Sportlich war die Zeit die bislang erfolgreichste meiner Karriere, auch menschlich bin ich dort gereift. Ich kann jedem nur empfehlen, einmal aus der `Komfortzone Deutschland´ raus zu kommen. Man lernt zu schätzen, welche Standards wir in Deutschland haben und dass diese einem das Leben doch recht komfortabel erscheinen lassen.“

Im Januar nächsten Jahres steht mit der Nationalmannschaft die EM in Kroatien an. Ziel ist ganz klar die Titelverteidigung, oder? Wie war für dich die Umstellung von Dagur Sigurðsson zu Christian Prokop?
Tobias Reichmann: „Ein erneuter EM-Titel ist definitiv unser Ziel. Wobei eine EM schwieriger zu spielen ist als eine Weltmeisterschaft, da die Leistungsdichte bei uns in Europa doch enorm ist. Die Qualifikation ist gut gelaufen. Ich bin positiver Dinge, dass wir in Kroatien eine gute Rolle spielen werden. Wichtig wird sein, während des Turniers wieder als verschworene Einheit aufzutreten. Von Christians Prokops Arbeit habe ich einen sehr positiven Eindruck, wobei ich ihn bislang nur in der Zeit der Qualifikationsspiele gegen Slowenien erlebt habe. Als Trainer legt er sehr viel Wert auf Detailarbeit.“

Im deutschen Handball wird viel davon gesprochen, unsere Sportart medial mehr in den Fokus der Öffentlichkeit zu bekommen. Seit dieser Saison überträgt Sky jedes Bundesligaspiel. Wie bewertest du den Einstieg des Pay-TV-Senders in die Handball-Bundesliga?
Tobias Reichmann: „Ich finde es super, dass Sky die Handball-Bundesliga in diesem Umfang präsentiert. Das Niveau der Übertragungen ist deutlich gestiegen, jeder Fan kann sämtliche Bundesligaspiele seines Vereins jetzt live am Fernsehen verfolgen. Durch das Mehr an Medienpräsenz profitiert der Handball insgesamt. Ich weiß, dass es nicht wenige Kritiker gibt, die nicht so begeistert davon sind, jetzt für Livespiele im Fernsehen bezahlen zu müssen. Doch schaut man sich die professionelle Sportberichterstattung und den damit verbundenen Kosten für Senderechte heutzutage an, bleibt festzuhalten, dass es in den beliebten Sportarten kaum noch ein `Umsonst´ gibt. Und insgesamt habe ich das Gefühl, dass der Unmut der Handballfans bei den damaligen Übertragungen bei Sport 1 größer war, da teils andere Sportarten dem Handball vorgezogen wurden. Da sind wir heute deutlich besser aufgestellt. Den Einstieg von Sky empfinde ich deshalb als Gewinn.“

Stefan Kretzschmar hat in einem Interview mit Handball-Backstage zu seiner neuen Talk-Show gesagt: „Ziel meiner Live-Sendung soll es sein, den Handball insgesamt medial voranzubringen – und ähnlich wie im Fußball - ein Talkshow-Format zu etablieren. (…) Wir möchten Stars kreieren und deren Entwicklung medial auf ein neues Level bringen (…).“ Fühlst du dich angesprochen?
Tobias Reichmann: „Ja und nein - für mich persönlich macht es das gesunde Maß aus. Ein Zuviel an Medienpräsenz kann der Karriere auch hinderlich sein. Unsere Sportart braucht aber natürlich Persönlichkeiten, die in den Medien präsent sind. Davon profitiert letztendlich der gesamte Handball. In diesem Bereich haben wir sicherlich noch viel nach Luft oben – wenn ich mir so den Fußball betrachte, der für uns aber kein Maßstab sein sollte.“   
   
Schon eine Einladung zu Kretzsches neuem Talk erhalten? 
Tobias Reichmann: „Bis jetzt noch nicht -  und ich möchte mich da auch nicht vordrängeln. Aber ich würde mich über eine Einladung freuen und somit nicht nein sagen.“

Tobias, vielen Dank für das Interview und viel Erfolg in der laufenden Saison.  

Fotos: Max Sander - Sascha Klahn/DHB


Autor: Max Sander

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