Isländisches Know-how sorgt für deutsches Handballmärchen

Island – da denken viele Menschen gemeinhin an eine Insel mit rauem Klima, grünen Wiesen mit Schafen und Ponys, Fischfang, Fjorden, Vulkanen, Gletschern und Geysiren. Doch abseits des Touristenführers wird der europäische Inselstaat auch als Sportnation wahrgenommen. Die Fußballer des Landes konnten sich erstmalig für eine Europameisterschaft qualifizieren und werden in den nächsten Tagen und Wochen für volle Pubs zwischen dem 63. und 66. Breitengrad im nördlichen Atlantik sorgen. Nationalsportart Nr. 1 aber ist Handball, Weltklassespieler wie die „lebende Legende“ Ólafur Stefánsson und Aron Pálmarsson haben einen isländischen Pass. Seit fast dreißig Jahren mischt die Nationalmannschaft in der Weltspitze mit, nimmt mit großer Regelmäßigkeit an Welt- und Europameisterschaften sowie Olympischen Spielen teil.
 Aktuell finden sich in den Mannschaftsaufstellungen aller deutschen Erst- und Zweitligisten an die 20 Spieler mit der Endung ...(s)son (Schweden ausgenommen) wieder. Und auch an der Seitenlinie steht jede Menge isländisches Handball-Know-how. Alfreð Gíslason gibt seit Jahren beim THW Kiel die Kommandos und bei den Füchsen in Berlin vertraut man seit dieser Saison auf den Handball-Sachverstand von Sigurðsson-Nachfolger Erlingur Richardsson. Und auch international ist auf der Trainerbank viel isländisches Wissen zu finden. Dagur Sigurðsson führt den deutschen Handball-Bund zu völlig überraschenden Höhenflügen, unter Guðmundur Guðmundsson spielt Dänemark weiter in der Weltspitze mit und Patrekur Jóhannesson sorgte bei den Österreichern in den vergangenen Jahren für eine nie dagewesene Handballbegeisterung.  
Stellt sich die Frage: Wie machen das die Isländer? Ein Land, nur 320.000 Einwohner zählend, dass auf stolze drei Dekaden Weltklasse-Handball zurückblicken kann. Zum Vergleich: Auf der Insel im Nordatlantik leben in etwa so viele Menschen wie in Bielefeld. Alfreð Gíslason hat während einer Pressekonferenz einmal verlauten lassen: „Die Begeisterung für Handball auf Island ist wie in Kiel.“ Der Gewinn der Silbermedaille bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking ist der größte sportliche Erfolg in der Geschichte seines Landes und hat entscheidend zur Euphorie beigetragen. Die Akteure der Nationalmannschaft genießen Heldenstatus. „Bei Welt- und Europameisterschaften sitzen 90 % der Isländer vor dem Fernseher, wenn Pálmarsson und Co. auflaufen“, weiß Bjarki Elisson zu berichten, Linksaußen der Berliner Füchse. Für den 25-jährigen ist mit der “stärksten Liga der Welt“ ein Traum in Erfüllung gegangen: „In Deutschland in der Bundesliga zu spielen, ist der Wahnsinn. Die großen Hallen, die Fans, das Medieninteresse, das ist schon sehr beeindruckend. Meine Familie ist sehr stolz auf mich, ich bekomme via Skype und Facebook viel Support von Zuhause.“
Doch die Erfolgsgeschichte beginnt viel früher. Zu Beginn der 80er Jahre sicherte sich der isländische Handballverband das Wissen dreier Trainer aus dem ehemaligen Ostblock, zudem brachten einige Skandinavier ihr Handball-ABC den Insulanern näher. „Stück für Stück ging es voran, nach einigen Jahren hatte jedes Dorf eine Handballmannschaft. Die Amateure trainieren inzwischen unter Profibedingungen. Die Trainer sind technisch und taktisch sehr gut ausgebildet, die Hallen auf dem neuesten Stand, die medizinische Versorgung topp“, sagt Aðalsteinn Eyjólfsson, Coach des TV Hüttenberg und zuvor beim ThSV Eisenach unter Vertrag. Weitere Erfolgsfaktoren: großer interner Wettbewerb, positive Einstellung zum Sport und gute körperliche Konstitution. Für viele isländische Kinder gibt es kaum einen größeren Traum, als im Handball um Ruhm und Ehre für die isländische Nation spielen zu dürfen und eines Tages bei einem Profiverein auf dem europäischen Festland seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Frank Thünemann, Kenner des isländischen Handballs und mit guten Kontakten dorthin ausgestattet, beschreibt die Insel als ein einziges Handballinternat. „Alle Kinder und Jugendlichen gehen zum Handball, sind schon in jungen Jahren sehr gut ausgebildet. Zudem schätze ich an den Isländern ihre ehrliche Art, Handball zu spielen. Sie sind sehr trainingsfreudig, mit einem Kämpferherz ausgestattet, gehen dorthin, wo es weh tut. Mund abwischen, weitermachen“, so der frühere sportliche Leiter des TV Emsdetten. Seit einigen Jahren bauen die Westfalen nun schon auf die isländische Handballschule, mit Ernir Arnarson, Oddur Grétarsson und Anton Rúnarsson standen in der abgelaufenen Spielzeit drei Isländer im Kader des westfälischen Bundesligisten. Und die bestätigen Thünemanns Einschätzungen. „Bei uns dreht sich alles um Ballsport. Im Sommer spielen die Kinder und Jugendlichen Fußball, im Winter Handball. Die Trainingsbedingungen sind optimal, jeder Verein hat seinen eigenen Physiotherapeuten “, so Grétarsson, der wie Alfreð Gíslason aus Akureyri stammt und seit drei Jahren für den TVE auf der “Platte“ steht. Die knapp 18.000 Einwohner zählende Stadt an der Nordküste ist Heimat des Erstligisten Knattspyrnufélag Akureyrar, bei dem schon Spieler wie Guðjón Valur Sigurðsson vom FC Barcelona aktiv waren. Absolutes Zentrum des isländischen Handballs ist aber die Hauptstadt. Im Großraum Reykjavík leben um die 200.000 Menschen, viele Erst- und Zweitligisten sind dort zu finden. „Die meisten Talente des isländischen Handballs kommen aus dieser Gegend, es gibt viel Wettbewerb auf einem hohen Level“, weiß Ernir Arnason, der 2011 von Valur Reykjavík zur HSG Düsseldorf ging. Auf der Insel gibt es insgesamt acht Teams in der 1. und zehn Teams in der 2. Liga. Ein Nachteil ist, dass die Mehrheit der Spieler nur auf Amateurbasis dem Handballsport nachgehen können und somit tagsüber einen regulären Job ausüben müssen. Nur etwa 5 bis 10 % können vom Sport leben. Eine Erklärung dafür, warum viele Isländer den Sprung in die europäischen Profiligen wagen. Die Einheimischen auf der Insel verfolgen aber genau, was ihre Landsleute auf dem Festland treiben. „Es gibt wöchentliche Zeitungsberichte über die Bundesliga“, berichtet Olli Ragnarsson, der mit der Empfehlung der isländischen Meisterschaft mit HK Kópavogs (Vorort von Reykjavik) und der Auszeichnung zum Most Valuable Player 2012 beim TVE anheuerte und seine `Brötchen´ aktuell beim ThSV Eisenach verdient. Unisono sind sich die “Isis“ einig, warum die Talentschmiede in ihrer Heimat so gut funktioniert: „Wenn die Trainer dein Talent erkannt haben, spielst und trainierst du häufig  schon mit 10 Jahren mit älteren Mitspielern. Das ist eine sehr gute Erfahrung und bringt dich entscheidend voran. Mit 17 Jahren spielen schon viele Jugendliche im Seniorenbereich, es gibt sogar 15-Jährige, die in der 1. Liga spielen und sich dort durchsetzen.“
Die Bundesliga profitiert von dieser guten Ausbildung. So ist die positive Entwicklung beim Zweitligisten EHV Aue eng mit dem Namen Rúnar Sigtryggsson verbunden, der seit 2012 als Trainer im Erzgebirge tätig ist und im Laufe der Jahre gleich vier seiner Landsleute ins Team integrierte. „Ich finde, dass die Isländer von der Mentalität her gut zu uns passen. Sie sind ein ehrlicher Schlag Mensch und stehen zu ihrem Wort. Sie sind sehr ehrgeizig, manchmal muss ich sie sogar bremsen“, so EHV-Geschäftsführer Rüdiger Jurke.
Auch bei den Füchsen Berlin wird seit 2009 auf die isländische Handballschule gesetzt. Der Hauptstadtclub, der in den vergangenen Jahren etliche Deutsche Jugendmeisterschaften feiern konnte und sich zudem Schul-Weltmeister nennen darf, bereitet seinen Nachwuchs seit zwei Jahren in der Füchse-Town auf höhere Aufgaben vor. Einer der Baumeister dieses Trainingsleistungszentrums auf dem Gelände des Olympia-Stützpunktes: der frühere Füchse-Coach und jetzige Bundestrainer Dagur Sigurðsson. „Als Spieler und Geschäftsführer habe ich bei Valur Reykjavík viele Erfahrungen in der Jugendförderung sammeln können. Die haben wir in Berlin Eins-zu-eins umgesetzt.“ Nicht zuletzt deswegen bekam das Füchse-Nachwuchskonzept im vergangenen Jahr den Preis “Grünes Band für vorbildliche Talentförderung im Verein“ des Deutschen Olympischen Sportbundes verliehen.
Mich wundert der aktuelle Höhenflug der deutschen Nationalmannschaft wenig. Wer einmal die Füchse-Town am Olympiastützpunkt in Berlin-Höhenschönhausen in Augenschein nehmen durfte, weiß um die Qualität des Bundestrainers bei der Entwicklung junger Talente zu gestandenen Spitzenkräften - Fabian Wiede, Johannes Sellin und Paul Drux sind eindeutige Belege dafür.


Fotos: Trainingshelden


Autor: Max Sander

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