Wer dieser Tage auf die Tabelle der Handball-Bundesliga schaut, mag
schnell denken: Alles beim Alten. Ganz oben stehen die Big five, das
Verfolger- und Mittelfeld sortiert sich langsam in gewohnter Manier und
am Tabellenende stehen die Aufsteiger. Rühmliche Ausnahme bilden die
Bergischen Löwen, deren Rückkehr in die HBL von langer Hand geplant
war. Aber sonst: The same procedure as every year! Jedes Jahr beißen
sich die Aufsteiger die Zähne aus an der stärksten Liga der Welt. In den
vergangenen zehn Jahren schaffte es nur eine Handvoll Vereine, nicht
nach einer Spielzeit wieder den Fahrstuhl gen Zweitklassigkeit nehmen zu
müssen. Warum ist das so? Was muss ein Aufsteiger mitbringen, um mehr
zu sein als nur Kanonenfutter für die Etablierten?
Für Frank Carstens, Trainer des SC Magdeburg, ist der Fall klar:
„Ein Zweitligaverein muss schon zu Beginn der Saison den Plan haben,
aufsteigen zu wollen, sich mit erstligaerfahrenen Spielern verstärken
und die Mannschaft sich einspielen. Spätestens mit Beginn der Rückserie
muss der Verein auf dem Transfermarkt nachlegen, denn mit Beginn des
Frühjahrs sind weit über 90 % der Erstligaspieler nicht mehr auf dem
Markt. Dazu benötigst du natürlich auch entsprechend Kapital.“ Seine
Erfahrungen stammen aus seiner Zeit bei der TSV Hannover-Burgdorf, der
unter seiner sportlichen Federführung im Jahr 2009 der Sprung in die
Erstklassigkeit gelang. Seit vier Jahren klettern die Niedersachsen in
der HBL sukzessive die Erfolgsleiter nach oben. Vorläufiger Höhepunkt:
In der vergangenen Saison gelang mit Tabellenplatz 6 bei 46:22 Punkten
die Qualifikation für den Europapokal. Doch die Vorbereitungen für die
Erfolge der letzten Jahre fingen schon viel früher an. „2005 sind wir
als TSV Burgdorf in die 2. Liga aufgestiegen. Aber uns war schnell klar,
dass wir nach Hannover müssen, wenn wir uns weiter entwickeln wollen.
In Burgdorf gab es keine bundesligataugliche Halle, die Sponsorenakquise
gestaltete sich schwierig. Somit war der Weg vorgezeichnet. Ein
Aha-Erlebnis war 2003 das Spiel gegen TUSEM Essen im Pokal, als fast
8.500 Zuschauer in der damaligen Preussag-Arena uns trotz der
20:25-Niederlage feierten. Da war uns klar: Die Zukunft liegt in der
Landeshauptstadt“, so Christopher Nordmeyer, damals als Rechtsaußen mit
sechs Toren erfolgreichster Torschütze beim Drittligisten und seit
Februar 2011 auf der Nach-Nachfolger von Carstens auf der Trainerbank.
Nach dem Aufstieg in die 2. Bundesliga ist der Weg vorgezeichnet,
mit Gründung der GmbH wird der Name umgestaltet, zwischen TSV und
Burgdorf wird der Name Hannover eingefügt, um Wurzeln und Zukunft der
Mannschaft in Einklang zu bringen. Gleichzeitig wird der Umzug aus der
30.000 Einwohner Gemeinde in die über 500.000 Einwohner zählende
Landeshauptstadt vollzogen, fortan ist die AWD-Hall (heute Swiss Life
Hall) die neue Heimstätte. „Die wirtschaftlichen Erfordernisse waren
einfach so, dass der Umzug unumgänglich war. In Burgdorf konnten wir 400
Zuschauern in einer Turnhalle einen Platz anbieten, die AWD-Hall
verfügt bei unseren Heimspielen über eine Kapazität von knapp 4.200. In
der ersten Zweitligasaison war es manchmal mit 800 Fans im Schnitt
gespenstisch leer und wir haben eine Tribünenseite abgehängt, um mehr
Atmosphäre zu bekommen. Aber pö a pö wuchs das Interesse“, erinnert sich
Pressesprecher Holger Staab, Ur-Burgdorfer und seit über vierzig Jahren
mit dem Verein verbandelt. In seiner Heimatstadt wurde das Projekt
überwiegend positiv aufgenommen, trotz eines 25 km-Weges zur neuen
Spielstätte. „Nur vereinzelt kommen traditionell denkende Fans nicht
mehr. Mit unseren Eintrittskarten können die Burgdorfer kostenlos den
ÖPNV des Großraums Hannover nutzen, zusätzlich bieten wie einen
Bus-Shuttle an“, so der Pressesprecher. Sportlich lief es gut in der 2.
Liga, nach Platz 4 in der Premierensaison spielte sich die TSV in den
folgenden Jahren in der Spitzengruppe fest. Und auch der Rest der
Handballabteilung trägt ihren Teil zur Erfolgsgeschichte bei. Die Zweite
kann in dieser Zeit einen Aufstieg nach dem anderen feiern, von der
Bezirks- bis in die Oberliga hoch. Sämtliche Nachwuchsmannschaften sind
in den höchsten Ligen vertreten, 2008 verleiht die HBL erstmalig das
Jugendzertifikat. Fast zwangsläufig und dennoch überraschend folgt im
Jahr 2009 der Aufstieg der 1. Herren in die höchste deutsche
Spielklasse. „Das Relegationsrückspiel gegen Friesenheim war schon
Gänsehaut pur. Eigentlich hatten wir nach dem 24:31 in Friesenheim den
Traum vom Aufstieg schon zu den Akten gelegt. Aber als Jacek Bedzikowski
mit dem Schlusspfiff den entscheidenden Treffer zum 25:18 erzielen
konnte, brachen alle Dämme. Die Halle stand Kopf, für mich persönlich
war es ein toller Abschluss meiner aktiven Karriere“, blickt Christopher
Nordmeyer auf 20 Jahre als Spieler zurück. Die TSV ist endgültig
angekommen in der Niedersachsenmetropole, hat sich behaupten können
gegen erstklassige Konkurrenz anderer Sportarten sowie dem damaligen
Handball-Zweitligisten HSV Hannover.
Es folgten zwei Jahre in der Belletage, die nicht frei von
Turbulenzen waren, am Ende aber jeweils mit Platz 14 der sichere
Klassenerhalt stand – auch hier ist die TSV fortan etabliert. Einen
großen Anteil an diesen Erfolgen hat Bernd Gessert, mit seiner Firma
cp-pharma langjähriger Hauptsponsor des Vereins.„Herr Gessert ist für
die TSV unglaublich wichtig, und das nicht nur finanziell. Mit seinem
Ehrgeiz und seinen Visionen steht er stellvertretend für unsere Erfolge.
Ich habe selten einen Menschen wie ihn erlebt, der so viel Begeisterung
für den Sport zeigt“, sagt Nordmeyer über den 71-jährigen Unternehmer
aus Burgdorf, der sich auch anderweitig um das gesellschaftliche Wohl
sorgt. Der ehemalige Ruderer war es auch, der das Wort Europapokal
erstmalig in den Mund nahm. „Herr Gessert ist ein Visionär, der freier
seine Ideen äußern kann als die Funktionäre im Verein“, so Benjamin
Chatton, dem seit Sommer 2011 die hauptamtliche Geschäftsführung der
Handball-GmbH obliegt. Der Diplom-Kaufmann, mit 32 Lenzen jüngster
Manager in der HBL, sieht seine Aufgabe bei den Niedersachsen darin, den
Verein wie ein Unternehmen zu führen, eine Handballmarke zu entwickeln,
die Handballregion Hannover mit ins Boot zu holen und für Sponsoren und
Zuschauern als verlässlicher Dienstleistungsanbieter tätig zu sein.
„Wer Spitzenhandball im Großraum Hannover sehen möchte, kommt zu uns.
Wir dürfen aber unsere Wurzeln nicht vergessen und müssen nicht alles
verändern, was sich in den vergangenen Jahren erfolgreich entwickelt
hat“, lautet sein Credo. Weiterhin setzt die GmbH auf Ehrenamtlichkeit.
Pressesprecher Holger Staab steht sinnbildlich dafür.
Verändert wurde aber das äußerliche Erscheinungsbild. TSV
Hannover-Burgdorf – ein Vereinsname, der sehr langatmig daher kommt. So
kam es im vergangenen Jahr zur Markenumgestaltung mit neuem Logo und dem
Namenszusatz „DIE RECKEN“. Wichtig ist den Machern dieser Coporate
Identity–Strategie, keine Anglizismen verwendet und einen Begriff neu
kreiert zu haben, der unbelastet ist. „Der Begriff „Die Recken“ stammt
aus dem Mittelalter und stand für die Kämpfer aus dem Volk. Es waren
oftmals große, starke Jungs. Das passt doch bildlich ganz gut zu unseren
Handballern“, findet Benjamin Chatton, der mit Spitzenhandball in
Hannover noch einiges vor hat. „Es muss noch viel wachsen. Aktuell sind
wir natürlich stolz, die niedersächsische Landeshauptstadt in Europa
vertreten zu dürfen. Mittelfristig möchten wir uns dauerhaft unter den
zehn besten Mannschaften Deutschlands etablieren. Dazu müssen wir das
Zuschauerinteresse im Großraum Hannover stetig steigern und neue Partner
aus der Wirtschaft gewinnen.“ Als Konkurrenz zum großen Nachbarn 96
sieht er die TSV nicht, dazu spielt der Fußball einfach in einer anderen
Liga. Vielmehr versucht der umtriebige Geschäftsführer, Synergien
zwischen beiden Vereinen auszuloten und an bestimmten Spieltagen ein
Fuß- und Handballevent im Doppelpack zu kredenzen, denn vom Stadion zur
Sporthalle ist es ein Katzensprung. Bleibt die Frage, ob DIE RECKEN
eines Tages regelmäßig die mehr als doppelt so große TUI-Arena füllen
können, um in der Zuschauerstatistik zu den Großen der Zunft
aufschließen zu können. „Aktuell fühlen wir uns in der Swiss Life Hall
gut aufgehoben, da bei unseren aktuellen Zuschauerzahlen die Stimmung
dort um Einiges besser ist. Das wir bei speziell beworbenen Spielen auch
die große Arena voll bekommen, haben wir schon mehrfach bewiesen.“
In Hannover und Burgdorf ist in Sachen Handball viel in Bewegung,
die aktuellen Erfolge stehen stellvertretend für eine erstaunliche
Entwicklung in den vergangenen acht Jahren. Schön zu sehen, dass
Historie und Zukunft in Einklang gebracht wurden. Das gelingt längst
nicht jeder Handball-Großstadt. Aktuell freuen sich die Niedersachsen
auf ihre ersten Europapokalspiele, wenn es gegen die Kadetten aus
Schaffhausen geht. Doch bei all der Euphorie ist Nachhaltigkeit ein
wichtiger Baustein. Oder um es mit den Worten Benjamin Chattons zu
sagen: „Wir investieren in Steine und Beine.“ Wohin der Weg die TSV
mittel- und langfristig führen wird, bleibt abzuwarten. Aktuell sind DIE
RECKEN gut positioniert. Die 2.Herren unter Trainer Sven Lakenmacher
spielen in der 3. Liga und erfüllen als Perspektivkader das Kriterium
der so wichtigen Anschlussförderung für talentierte Nachwuchshandballer.
„Dennoch ist die sportliche Entwicklung generell nicht so voraussehbar.
Wir wollen Mannschaft und Verein schrittweise weiter entwickeln. Wo wir
jetzt stehen, wollen wir nicht wieder weg. Ob wir ganz oben angreifen
können, ist auch eine Frage des Etats. Mit unserem 3 Mio. Euro-Etat
können wir langfristig natürlich nicht mit einem 9 Mio. Euro-Budget auf
Augenhöhe konkurrieren. Wir müssen mit unserem sportlichen Tun in
Vorleistung gehen“, blickt Christopher Nordmeyer optimistisch in die
Zukunft.
Fotos: Trainingshelden