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Stefan Kretzschmar: "Ziel dieser Live-Sendung soll sein, den Handball medial voranzubringen"

Es war in jüngster Vergangenheit einiges in Bewegung im deutschen Handball: Trainerwechsel bei der Nationalmannschaft, neuer Fernsehvertrag, dazu die Dauerdiskussion um die permanente Überbelastung von Spielern der deutschen Champions League-Teilnehmer mit einhergehender erhöhter Verletzungsanfälligkeit. Domagoj Duvnjak und Holger Glandorf lassen vom Krankenbett aus grüßen. Was denkt Handballexperte Stefan Kretzschmar darüber? Wir haben ihn zu seiner Sicht der Dinge befragt. 

Hallo Stefan, wie bewertest du den Pflichtspiel-Einstand von Bundestrainer Christian Prokop nach den beiden Slowenien-Länderspielen? Ist seine sportliche Handschrift schon ein wenig zu erkennen?
Stefan Kretzschmar: „Ich habe mir beide Spiele natürlich angeschaut und muss sagen: Das war ein echtes Statement. Gerade der Spielverlauf und das Resultat im ersten Spiel in Ljubljana gegen den amtierenden WM-Bronzemedaillengewinner waren so nicht zu erwarten. Ich hatte im Vorfeld einige `Bauchschmerzen´ ob der Spielstärke der Slowenen. Aber unsere Nationalmannschaft hat das souverän gelöst, war taktisch sehr gut eingestellt. Andreas Wolff und Uwe Gensheimer haben dort eine ganz starke Leistung geboten, die es auch braucht, um Slowenien so dominieren zu können. Christian Prokop hatte in beiden Spielen natürlich großen Druck, sofort erfolgreich sein zu müssen, denn die Qualifikation ist für die deutsche Nationalmannschaft ein absolutes Muss. Da ist es für ihn als neuen Bundestrainer ohne große Vorbereitung schwierig, der Mannschaft sofort seinen individuellen Stempel aufzudrücken und diese weiterzuentwickeln. Es bestand ja auch kein Anlass zu großartigen Veränderungen, denn er hat von Dagur Sigurðsson ein funktionierendes Gebilde übernommen. Wir sind amtierender Europameister und haben bis auf das Viertelfinale gegen Katar auch bei der WM in Frankreich überzeugt. Es bedarf keiner völlig neuen Struktur, Christian kann auf guten Dingen aufbauen. Ich kenne seine Visionen, wie er zukünftig erfolgreich Handball spielen möchte. Und in den nächsten Wochen und Monaten wird auch seine Handschrift deutlich zu erkennen sein. Es braucht noch einiges an Veränderungen, damit die Nationalmannschaft sich dauerhaft in der absoluten Weltspitze etabliert.“

Wichtiger Bestandteil der Nationalmannschaft ist Finn Lemke als Abwehrchef. In einem Interview auf Handball Backstage sagt er zu seinen Gründen, warum er im Sommer nach Melsungen wechselt: „Ich möchte auch meine individuelle sportliche Entwicklung vorantreiben. In Magdeburg bin ich der vermeintliche Abwehrchef. Durch den Wechsel nach Melsungen erhoffe ich mir mehr Spielanteile im Angriff, da Trainer Michael Roth zukünftig auch offensiv auf mich setzt.“ Wie siehst du seine bisherige Entwicklung sowie seine Zukunft bei der MT Melsungen?
Stefan Kretzschmar: „Finn Lemke ist nicht nur ein sehr guter Handballer, sondern auch ein großartiger Typ. Ich habe ihn persönlich schon zweimal kennen gelernt und er hat mich auch als Mensch begeistert. Als Spieler ist er auf dem Spielfeld mit seiner Größe und seiner Leistung der `Fels in der Brandung´, mich überzeugen aber auch seine Ansagen während des Spiels und in der Kabine. In der Defensive hat er sich in den letzten Jahren sehr gut entwickelt und macht in Magdeburg und in der Nationalmannschaft einen überragenden Job. Seine Ambitionen, nicht mehr nur reiner Abwehrspieler sein zu wollen und jetzt auch offensiv durchzustarten, kann ich gut verstehen und freue mich, dass Michael Roth ihn in seiner Entwicklung voranbringen möchte. Ich traue es Finn zu, wenn er das nötige Selbstvertrauen entwickelt. Ich kenne aber das Bundesligageschäft und bin gespannt, wenn es in Melsungen zu Drucksituationen kommt, da es sportlich nicht wie gewünscht läuft. Die Frage wird dann sein, ob Michael Roth weiter an ihm festhält oder im Angriff einen anderen Halblinken vorzieht. Ich bin aber überzeugt, dass Finn Lemke es dort schaffen kann. Wenn er mit seiner Urkraft aus der zweiten Reihe auf´s Tor zieht, daraus lässt sich deutlich mehr rausholen.“

Christian Prokop hat eine Verkleinerung der Handball-Bundesliga von 18 auf 16 Mannschaften vorgeschlagen. Wie siehst du diesen Vorschlag?
Stefan Kretzschmar: „Meine Meinung bezüglich dieses Themas hat sich im Laufe der letzten Jahre doch geändert. Früher hätte ein Verkleinerung Sinn ergeben, wenn sich die Bundesliga auf die EHF zubewegt hätte und gemeinsam eine Lösung gefunden worden wäre. Aber aus heutiger Sicht – und aus dem Blickwinkel vieler Bundesligisten – kann ich eine Reduzierung auf 16 Mannschaften nicht gut heißen. Eine permanente Überbelastung betrifft ja nur die Champions League-Teilnehmer Kiel, Flensburg und die Rhein-Neckar-Löwen. Was bei denen an sportlichem Pensum abgespult wird, das ist schon Raubbau an der Gesundheit der Spieler. Alle weiteren Bundesligisten klagen nicht, da deren Spieler mit der Belastung aus Liga und Pokal gut klar kommen. Auch in Bezug auf die Chancengleichheit bin ich gegen eine Verkleinerung, da diese sich zwischen den Topmannschaften und dem Rest der Liga weiter verringern würde. Nicht nur die Vereine aus der unteren Tabellenhälfte, sondern auch Mannschaften wie Hannover, Leipzig, Melsungen oder Wetzlar sind finanziell auf jedes Heimspiel angewiesen. Wenn dann nur noch 15 Spiele pro Saison vor eigenem Publikum stattfinden, wäre das ein erheblicher Eingriff in den Jahresetat, der durch keine zusätzlichen Einnahmen aufgefangen wird. Die Schere zwischen oben und unten würde weiter auseinandergehen. Ich bin unter anderem auch Funktionär beim DHfK Leipzig, und somit gegen eine Verkleinerung der 1. Bundesliga. Zudem gilt zu bedenken, dass dadurch die Leistungsunterschiede zwischen 1. und 2. Liga noch größer werden.“

Rune Dahmke vom THW Kiel sieht einen wesentlichen Grund für die permanente Überbelastung in der `Aufblähung´ der Vorrunde in der Champions League.
Stefan Kretzschmar: „Das muss man differenziert sehen. Rein aus Sicht des deutschen Handballs und dessen Champions League-Teilnehmern würde eine Reduzierung von Spieltagen in der Vorrunde Sinn ergeben. Allerdings ist Deutschland in Europa das einzige Land, in dem die nationale Liga mehr Gewicht hat als die Champions League. In der Bundesliga herrscht ein guter Wettbewerb und die Hallen sind durchweg voll. In Spanien, Frankreich, Ungarn und anderen europäischen Ländern dagegen ist die Champions League das absolute Premiumprodukt, die nationalen Ligen dagegen eher langweilig - wobei die französische Liga wieder auf dem Vormarsch ist. Topmannschaften wie Barcelona, Veszprém, Paris oder Kielce dominieren dort teils überdeutlich und können ihren Fokus mehr auf den europäischen Wettbewerb legen. Eine Idee wäre doch, dass die deutschen Top-Mannschaften erst in der Hauptrunde aktiv werden, um deren Belastung zu reduzieren. Ein Vorschlag, über den es sich nachzudenken lohnt – und damit Druck aus der ganzen Diskussion nehmen würde.“

Erstmals seit Jahren ist in dieser Spielzeit keine deutsche Mannschaft beim Final 4 in Köln vertreten. Und das, obwohl die Bundesliga gemeinhin als die `stärkste Liga der Welt´ gilt. Überrascht dich das?
Stefan Kretzschmar: „Das ist doch eine gesellschaftliche Entwicklung, die im gesamten Sport zu beobachten ist und somit auch vor dem Handball keinen Halt macht. Diejenigen Vereine mit den größten Budgets erreichen auch das Final 4. In finanzieller Hinsicht haben uns – mit Ausnahme von Kiel - die anderen europäischen Topvereine abgehängt. Jahrelang wurden beim THW die höchsten Gehälter gezahlt. Heutzutage hat Paris mithilfe ausländischer Investoren einen Etat von geschätzt 20 Mio. Euro, der somit doppelt so hoch ist wie der in Kiel. Klar, dass dort und in Barcelona oder Veszprém höhere Gehälter gezahlt werden als in der Bundesliga, somit viele Weltklassespieler dorthin gehen. Logische Konsequenz: Diese Clubs spielen in Köln um den Sieg in der Champions League.“

Ein Blick in die Zukunft: Zur neuen Saison werden viele Spiele der Handball-Bundesliga beim Sky übertragen. Du bist als Experte mit von der Partie, zudem bekommst du eine eigene Handball-Talkshow. Kannst du schon Details zum Programmformat erzählen?
Stefan Kretzschmar: "Ziel dieser Live-Sendung soll es sein, den Handball insgesamt medial voranzubringen und - ähnlich wie im Fußball - ein Talkshow-Format zu etablieren. Ich denke, dass so etwas in der Handballgemeinde gut angenommen wird. Jeden Sonntag von 17 bis 18 Uhr werde ich mit drei Gästen im Mittelkreis der Halle sitzen, in der das Bundesliga-Topspiel stattfindet. Gemütlich eingerichtet mit Ledersofa und Sessel möchten wir eine bunte Mischung rund um den Handball bieten. Zwei meiner Gäste werden unmittelbar aus dem Handball kommen. Interessante Menschen wie Kai Wandschneider, Alfreð Gíslason oder Andreas Thiel – dazu unsere Tophandballer. Wir möchten Stars kreieren und deren Entwicklung medial auf ein neues Level bringen. Zu jeder Sendung möchte ich zudem jeweils eine Person einladen, die zwar handballaffin ist, uns aber auch mal einen Blick von außen auf unsere Sportart bietet. Möglich, dass Sportmarketingexperten wie Christian Seifert von der DFL oder Christoph Metzelder meine Gäste sein werden, oder aber aus dem Bereich Teamsport ein Lothar Matthäus. In meiner Sendung wird immer ein “Thema der Woche“ – selbstklebender Ball und solche Geschichten - sowie den “Aufreger der Woche“ geben. Da werden wir dann auch mit Einspielern arbeiten. Mich freut besonders, dass die Talkshow bei Sky Sport News HD und somit im Free-TV zu sehen ist. Ich muss zugeben, dass ich ziemlich aufgeregt bin, bis es endlich losgeht - und gespannt, wie es von den Zuschauern angenommen wird.“

Stefan, vielen Dank für das Interview.


Fotos: Max Sander


Autor: Max Sander

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