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„Melitta-Kaffeeservice als Lohn für Deutsche Meisterschaft“

„Melitta-Kaffeeservice als Lohn für Deutsche Meisterschaft“

Rückblick: Februar 2014 – Ich besuchte ein Bundesligaspiel von GWD Minden, um eine Reportage über den Traditionsverein von der Porta Westfalica zu schreiben. Da in dieser auch die Historie zu Wort kommen soll, hatte ich den Plan, mit Rainer Niemeyer, 78er-Weltmeister und von 1977 bis 1985 Keeper im GWD-Gehäuse, über die glorreiche Vergangenheit seines Vereins zu sprechen. Da Herr Niemeyer aber an diesem Spieltag in der Kampa-Halle nicht zugegen war, bot sich mir die Möglichkeit, mit Herbert Lübking ein Interview zum Thema GWD zu führen. Fragt man die Generation Ü50 nach ihm, so können fast alle mit dem Handballer aus Minden etwas anfangen. Den Unwissenden sei an dieser Stelle gesagt: Der ehemalige Feldhandball- und Hallenhandball-Nationalspieler galt Mitte der 60er Jahre als der Weltbeste seines Sports. Einer, der ihn seit über fünf Dekaden sehr genau kennt und viele Jahre mit ihm gemeinsam auf dem Spielfeld stand, ist Erwin Heuer. Er sagt über seinen Freund: „Der Herbert ist immer auf dem Boden geblieben. Auch als er Mitte der 60er Jahre als weltbester Handballer bezeichnet wurde, ist er nie ausgeflippt. Dabei war es schon phänomenal, wie er seine Tore warf. Das machte ihm zu dieser Zeit keiner nach.“
Nach dem Interview in der Kampa-Halle stand fest: Ich möchte mich noch einmal mit Herbert Lübking treffen, um noch mehr über seinen sportlichen Werdegang zu erfahren.
August 2016: Ich bin mit ihm auf der Tennisanlage des TSV Rothenuffeln am Fuße des Wiehengebirge verabredet. Bei Sonnenschein und Radler kommen wir schnell ins Gespräch. 1949 im Alter von acht Jahren schloss sich der junge Herbert dem TSV Grün-Weiß Dankersen an, um fortan sportlich aktiv zu sein. „Als ich in die Schule kam, war klar, dass ich zum TSV gehe. In Dankersen haben alle Handball gespielt, es gab auch wenig anderes“, erinnert er sich an die Anfänge. Mit GWD stand er zu Jugendzeiten in diversen Endspielen um die Westfalen- bzw. Westdeutsche Meisterschaft. „Doch nicht allein die sportliche Leistung entschied über Ruhm und Ehre. Neben dem Handball fanden gemeinsame Leichtathletikwettkämpfe statt, zudem mussten wir als Mannschaft einen musikalischen Abend gestalten. Daraus wurde der Meister ermittelt. Ein für mich wichtiges Jahr war 1959, als ich in die westdeutsche Jugend-Auswahl berufen wurde, mit der ich die Vorspiele bei der Senioren-WM in Österreich bestreiten durfte. Und im gleichen Jahr gab ich einen Tag nach meinem 18. Geburtstag mein Senioren-Debüt in der Ersten von GWD in der Oberliga Westfalen, damals die höchste Liga“, erinnert sich Lübking zurück. Dabei ist die Handball-Welt von damals nicht mit der von heute zu vergleichen. Handball fand überwiegend auf dem Sportplatz statt, erst nach und nach wurde das Spiel in die Halle verlagert. „Es gab ja damals kaum Sporthallen. Wir hatten in Minden das Glück, dass wir die Halle der Engländer in der Simons-Kaserne nutzen durften. Dabei mussten wir jedes Mal am Eingangstor unseren Ausweis vorzeigen, um Handball spielen zu dürfen. Ansonsten wurde bis November/Dezember draußen auf dem Feld gespielt. Und das rein auf Amateurbasis. Wir hatten alle unsere Vollzeitjobs, konnten also erst in den frühen Abendstunden trainieren.“ Doch die Trainingseinheiten waren von Erfolg gekrönt. GWD zog zwischen 1962 und 1970 mehrmals in die Finalrunden um die Deutsche Meisterschaft sowohl im Feld- als auch Hallenhandball ein. Zwei deutsche Meistertitel und fünf Vizemeisterschaften konnten verbucht werden, dazu drei Europapokalerfolge im Feldhandball. Bis zu 18.000 Zuschauer verfolgten die Spiele im Mindener Weserstadion, das extra für Grün-Weiß Dankersen umgebaut wurde.
Den wohl größten Erfolg seiner Karriere feierte Herbert Lübking aber mit der deutschen Nationalmannschaft, mit der er 1966 den Weltmeistertitel holte. „Wir standen im Endspiel gegen die DDR. Man spürte schon, dass dieses Spiel mit Blick auf den Ost-West-Konflikt eine gewisse Brisanz hatte. Mit einem Unentschieden aufgrund des besseren Torverhältnisses aus der Gruppenphase konnten wir den Titel erringen und sind bis heute die ewigen Weltmeister, denn anschließend ist nie wieder eine WM auf dem Großfeld ausgetragen worden. Hallenhandball wurde populärer und verdrängte mit der Zeit den Feldhandball.“ Herbert Lübking galt zu dieser Zeit bei vielen Experten als der beste Handballer der Welt, und das sowohl In- als auch Outdoor. Das ist umso bemerkenswerter, da der Handball auf dem deutlich kleineren Spielfeld in der Halle von der Spielanlage und dem technisch-taktischen Verständnis der Akteure wenig mit dem des Feldhandballs gemein hatte. „Der russische Nationaltrainer Maximov und einige seiner Kollegen haben mich damals so tituliert. Aber in meinem Umfeld war das nie ein großes Thema. Zumal ich mir davon finanziell auch nichts kaufen konnte. Ich hatte damals einige Auftritte im Fernsehen. So war ich Gast im Blauen Bock und im ZDF-Sportstudio, aber mit der heutigen medialen Vermarktung von Sportlern lässt sich das Ganze nicht vergleichen. Und in unserem Sport gab es ja auch nichts zu verdienen. Nach dem Gewinn einer deutschen Meisterschaft waren unsere Frauen froh, wenn uns Melitta ein Kaffeeservice spendierte.“
Somit oblag es dem zweifachen Familienvater, neben der sportlichen Karriere auch seinen beruflichen Werdegang voran zu bringen. Als Kaufmann arbeitete er bis 1970 bei der Firma Melitta, einem der ersten Sponsoren bei GWD. Ein Jobangebot des Unternehmers Hans Hucke – verbunden mit einem Vereinswechsel von einem renommierten Bundesligisten hin zum Kreisligisten TuS Nettelstedt – sorgte für große Aufregung in Ostwestfalen und im Hause Lübking für eine unruhige Zeit. „Heute ist das Ganze für mich erledigt“, blickt der ehemalige Nationalspieler auf den wohl schwersten Abschnitt seines Lebens zurück. Dabei sollte der Wechsel erst 1972 vollzogen werden, um seine Teilnahme an den Olympischen Spielen von München nicht zu gefährden. „Doch Melitta bekam Wind von meinem Wechsel und kündigte mir umgehend. Somit war ich gezwungen, schon 1970 nach Nettelstedt zu gehen. Als Sportler schmerzt es einen natürlich schon, von der Bundesliga in die Kreisklasse zu wechseln. Ich musste aber meine Familie finanziell absichern und das Angebot der Firma Hucke gab mir die Möglichkeit dazu. Dafür musste ich zunächst meinen Traum von Olympia begraben, da mich der damalige Bundestrainer nicht mehr berücksichtigte. Als aber in den Folgejahren die Nationalmannschaft fast ausschließlich durch Niederlagen von sich reden machte und die Bild-Zeitung mit Schlagzeilen erschien: “Warum lasst ihr ihn nicht spielen?“ oder “Er kann das Spielen doch nicht verlernt haben“, sorgte der mediale Druck dafür, dass ich 1972 mit der westdeutschen Mannschaft ins Olympiastadion von München einmarschieren durfte.“
Mitte der 70er konnte Herbert Lübking dann auch wieder auf Vereinsebene an hochklassigen Handball denken. Unter seiner Führung gelang dem TuS Nettelstedt ein beispielloser Durchmarsch bis in die Bundesliga. Verstärkt durch Spieler aus der Region sowie dem jugoslawischen Olympiasieger Milan Lazarević  gelang 1976 der Sprung ins Oberhaus. Noch zwei Jahre schnürte er für den TuS die Handballstiefel, um diese zunächst an den berühmten Nagel zu hängen. Vom aktiven Handball konnte der damals 36-jährige aber auch in den Folgejahren nicht die Finger lassen. Als Spielertrainer des TBV Lemgo führte der “Dankerser Jung“ diesen in drei Jahren von der Oberliga bis in die 2. Bundesliga, um vom Bundesliga-Handball erst 1981 endgültig Abschied zu nehmen.
Herbert Lübking steht als Person wohl wie kaum ein Zweiter für die Handballregion Ostwestfalen-Lippe. Er ist dort allseits bekannt, und das nicht nur bei der Generation Ü50. OWL ist Handball-Land. Nicht wenige behaupten noch heute, die Region zwischen westfälischer Bucht und Weserbergland ist die Herzkammer des deutschen Handballs, auch wenn die ganz großen sportlichen Erfolge inzwischen anderswo gefeiert werden. In jedem Dorf Ostwestfalens gibt es einen Handballverein, und Herbert Lübking brachte das Kunststück fertig, die „stärksten Dörfer“ der Region allesamt in den hochklassigen Handball zu führen. Wer kann schon von sich behaupten, die Bundesliga-Trikots von GWD, TuS N und TBV getragen zu haben? Der Aufstieg dieser Vereine ist eng mit seinem Namen verbunden.
Doch es bröckelt an der ostwestfälischen Handballfassade, die Meisterschalen und Europapokale aus vergangenen Tagen haben mächtig Staub angesetzt. Mag die Jugendarbeit noch so gut sein, im Laufe der Jahre haben sich GWD Minden und der TuS N-Lübbecke angesichts sportlich wie finanziell übermächtiger Konkurrenz zu Fahrstuhlmannschaften entwickelt, die vor allem als Abstiegskandidaten im Oberhaus oder als Spitzenmannschaft in der 2. Bundesliga von sich Reden machen. Und auch der TBV Lemgo konnte in den letzten Jahren nur mit größter Mühe der Zweitklassigkeit entgehen. Diese Entwicklung ist auch Herbert Lübking nicht verborgen geblieben: „Heutzutage ist es doch in der Bundesliga eine rein finanzielle Frage, wer oben steht. Was für Sponsoren gibt es in der Stadt/der Region und was sind diese bereit zu zahlen? Da sehe ich die großen Städte klar im Vorteil. Unsere Mannschaften aus Ostwestfalen können gegen die finanziell gut ausgestatteten Vereine nicht mehr so gut mithalten. Da würde es doch Sinn ergeben, wenn sich Lübbecke und Minden zu einer Spielgemeinschaft zusammenschließen würden, um in der 1. Liga nicht zu den Abstiegskandidaten zu zählen. Doch ehrlich daran glauben mag ich nicht, denn dazu ist die Rivalität zwischen TuS und GWD viel zu ausgeprägt.“


Foto: Max Sander


Autor: Max Sander

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