Er hat sich in der Bundesliga den Ruf des zweikampfstarken Allrounders erarbeitet: Matti Flohr. Was liegt da näher, dass der zweifache Familienvater nach der wirtschaftlichen Demission des HSV Handball nun für die “Gallier von der Alb“ in der Bundesliga aufläuft. Für HBW-Geschäftsführer Wolfgang Strobel passt das perfekt zusammen: „Matti ist ein Spieler, der über sehr viel Erfahrung verfügt. Zudem steht er für das Kämpferische, er verkörpert unseren Handball in Balingen zu 100 %. Die Erwartungen, die wir in seine Verpflichtung gesetzt haben, sind voll aufgegangen. Als Mensch ist er sehr bodenständig und hatte somit keine Probleme, aus der großen Stadt kommend sich bei uns auf dem Dorf gut zu integrieren.“
Hallo Matti, du hast mit dem HSV jahrelang um Titel mitgespielt. Wie ist es für dich, jetzt von Saisonbeginn an im Abstiegskampf zu stecken?
Matti Flohr: „Das ist eine neue Erfahrung für mich. Jetzt gilt es etwas zu verhindern: den Abstieg. Wir spielen praktisch um den Titel “Klassenerhalt“. Der Abstiegskampf erfordert eine andere Herangehensweise. Es gilt, eine Mindestanzahl von Spielen zu gewinnen, um die Klasse zu halten. Du musst auch mal hohe Niederlagen – wie im vergangenen Monat in Flensburg – wegstecken können. So etwas kam beim HSV praktisch nicht vor. In Balingen fährst du wenige Siege ein, diese werden aber umso mehr gefeiert. Ein Auswärtssieg wie zuletzt der in Lemgo ist unheimlich viel wert. Ich bin noch ein `Novize´ im Abstiegskampf, lerne gerade sehr viel dazu. Der Fokus muss darauf liegen, immer alles aus sich rauszuholen, um ein gutes Handballspiel abzuliefern. Zudem nicht so viel über einen möglichen Abstieg nachzudenken. Auch wenn es ein wenig abgedroschen klingt: Hier bei uns in Balingen ist der Weg das Ziel.“
Bei der HBW hast du einen Zwei-Jahres-Vertrag unterschrieben, es gab aber dem Hören nach auch andere Angebote. Warum hast du dich für Balingen entschieden?
Matti Flohr: „Da waren mehrere Faktoren ausschlaggebend. Zum einen hatte ich gute Gespräche mit HBW-Geschäftsführer Wolfgang Strobel und insgesamt einen guten Eindruck vom Bundesliga-Handball in Balingen. Des weiteren habe ich eine Affinität zu den “Galliern von der Alb“, die mit bescheidenen finanziellen Mitteln seit Jahren Erstligahandball auf die Beine stellen. Es gibt hier eine hohe Professionalität gepaart mit familiärer Atmosphäre. Das finde ich sympathisch. Ich bin ja erst ein halbes Jahr auf der schwäbischen Alb, aber man spürt die Verbundenheit der Region mit diesem Verein. Es gibt eine große Nähe zu den Fans, du wirst von Menschen häufiger auf der Straße angesprochen und bekommst als Spieler viele positive Rückmeldungen. Die Stimmung in unserer Halle ist eine Besondere, das habe ich schon zu meinen HSV-Zeiten feststellen können. Sportlich gesehen finde ich die Aufgabe in Balingen reizvoll. Mit Rúnar Sigtryggsson haben wir einen Trainer, der taktisch sehr genau arbeitet und unheimlich kreativ ist. Das mit unserem offensiven Abwehrsystem, dem siebten Feldspieler oder anderen taktischen Varianten hat schon das eine oder andere Mal gut funktioniert. Rúnar findet gute Lösungsansätze, um gegen spielerisch überlegene Gegner bestehen zu können. Unsere Mannschaft ist sehr homogen aufgestellt und verkörpert das Kämpferische. Das passt zu meiner Art, Handball zu spielen. Und ein mit entscheidender Faktor für meinen Wechsel nach Balingen war auch die Zustimmung meiner Frau. Wir kannten die Region Schwäbische Alb/Schwarzwald schon von einem gemeinsamen Urlaub. Meine Frau fand die Idee `Mal raus aus der City, ab auf´s Land´ gut. So können wir unseren Kindern auch mal ein anderes Leben zeigen. In unserer Straße in Hamburg, die nur 200 m lang ist, leben in etwa so viele Menschen wie in Rosswangen, einem Ortsteil von Balingen, in dem wir jetzt leben. Wenn ich jetzt aus meinem Küchenfenster gucke, schaue ich auf eine Wiese. Für uns als Familie war es zu Anfang eine riesige Umstellung, da sich das Leben hier doch anders gestaltet. Aber wir haben uns schnell eingelebt.“
Zwölf Jahre hast du für den HSV gespielt. Wie war diese Zeit für dich?
Matti Flohr: „Insgesamt betrachtet eine überragende Zeit mit vielen Erfolgen. Zudem ist Hamburg eine der schönsten Großstädte Deutschlands, wir haben uns dort immer sehr wohl gefühlt. Der HSV Handball war für mich eine Herzensangelegenheit. Es hat sehr viel Freude gemacht, in all den Jahren dort etwas aufzubauen. Zu Beginn meiner Zeit in Hamburg haben wir vor 4.000 Zuschauern gespielt, in den letzten Jahren hatten wir einen Zuschauerschnitt von 10.000. Mit Martin Schwalb hatten wir einen Trainer, der mich sehr geprägt hat. Ich bin sehr dankbar, unter ihm gearbeitet und viel gelernt zu haben. Trotz des enorm starken HSV-Kaders hat er mir immer meine Spielanteile gegeben. Und auch abseits des Spielfeldes kam der Spaß nicht zu kurz.
Als sportlichen Höhepunkt würde ich die Deutsche Meisterschaft 2011 bezeichnen, die eine tolle Bestätigung unserer Arbeit einer kompletten Saison war. Der Champions-League-Sieg 2013 war sicherlich das emotionalste Highlight meiner Karriere, da dieser völlig unerwartet kam. Wir hatten zuvor eine miese Saison abgeliefert, haben uns dann beim Final Four in Köln voll reingehängt und an einem Wochenende sowohl Barcelona als auch Kiel geschlagen. Der Emotionsausbruch nach dem gewonnenen Finale ist schwer zu beschreiben - auf jeden Fall ein bleibendes Erlebnis. Demgegenüber war die Insolvenz vor knapp einem Jahr genau das Gegenteil. Es war nicht einfach, als es plötzlich zu Ende ging. Wir wollten es zunächst gar nicht wahr haben. Es muss doch weitergehen, so ein häufiger Gedanke. Es war ein harter Schlag, als dann das endgültige Aus feststand. Das Angebot, kurzfristig zu Skjern Håndbold nach Dänemark zu wechseln, war für mich damals eine gute Übergangsmöglichkeit, da ich den Schalter schnell umlegen konnte. Ich hatte wenig Zeit, mich weiter mit der Insolvenz des HSV zu beschäftigen. Wobei es gar nicht so einfach ist, mal eben ins Ausland zu wechseln. Bei einem internationalen Transfer gibt es mehrere Faktoren zu beachten, damit ein Wechsel vollzogen werden kann.“
Der neue HSV versucht in Hamburg einen völlig neuen Weg zu gehen. Man setzt dort auf die Jugend, tritt bescheiden auf. Wie siehst du – aus der Ferne betrachtet – diese Entwicklung?
Matti Flohr: „Telefonisch habe ich noch Kontakt zu meinen ehemaligen Mitspielern Toto Jansen und Stefan Schröder, die ja für den Nachfolgeverein aktiv sind. Die Eindrücke sind gut, der HSV spielt in der 3. Liga oben mit. Beeindruckend sind die Zuschauerzahlen. Es zeigt sich, dass das Potential für hochklassigen Handball - trotz der Insolvenz und dem damit verbundenen Negativimage – vorhanden ist. Hamburg mit seiner Wirtschaftskraft, da sollte doch etwas möglich sein. Ich bin mir sicher, dass wir den HSV in einigen Jahren wieder in der 1. Bundesliga sehen werden. Ich drücke allen Beteiligten die Daumen.“
Du bist jetzt 34 Jahre alt, Balingen wird somit wohl die letzte Station deiner Profi-Karriere sein. Gibt es schon Pläne für Zeit nach dem aktiven Handball?
Matti Flohr: „Als Familie halten wir uns alle Optionen offen. Geplant ist nur, die nächsten 1 ½ Jahre in Balingen zu verbringen. Was danach kommt, wird sich zeigen. Da sind wir relativ offen – auch beruflich. Ich habe mein Lehramtsstudium in Hamburg abgeschlossen, habe zudem die Trainer-B-Lizenz in der Tasche. Mal schauen, was kommt.“
Matti, vielen Dank für das ausführliche Gespräch.
Fotos: ninoco.de - Max Sander