Momentan sind alle Augen Richtung Polen gerichtet, wo bis
zum Finale am Sonntag in Krakau die 12. Handball-Europameisterschaft
ausgetragen wird. Es gibt nicht wenige, die behaupten, dass dieses zweijährig
stattfindende Event vom Leistungsniveau stärker einzuschätzen ist als eine WM.
Handball ist eine europäische Sportart, doch auch auf anderen Erdteilen tut
sich was. Ob Südamerika, Nordafrika, Australien oder in Nah- und Fernost, unsere
Ballsportart kommt mehr und mehr auch auf anderen Erdteilen zur Geltung.
So gibt es in Japan eine über 40-jährige Handballtradition.
Erstmals nahm 1970 die Nationalmannschaft Nippons als einziger Vertreter Asiens
an einer WM in Frankreich teil. „Aber Handball gehört bei uns nicht zu den
populärsten Sportarten. Die Japaner gehen doch eher zum Fußball oder Baseball
oder stehen auf traditionelle Kampfsportarten wie Judo oder Sumo“, weiß Yuya
Mizuno zu berichten, im Hauptberuf General Manager von Ryukyu Corazon. Der
japanische Erstligist von der Insel Okinawa weilte auf Einladung von Akira
Kajihara vom TV Emsdetten eine Woche in Deutschland, um neben dem Kennenlernen von Land und Leuten
auch sportlich etwas mit nach Hause zu nehmen. Große Hoffnungen setzen der Manager
und seine Mitstreiter auf die Olympischen Spiele 2020 in Tokyo. Dann eventuell mit deutscher Unterstützung - der
japanische Verbandspräsident Yoshihide Watanabe nahm während der WM in Katar
Kontakt zu Heiner Brand auf, um ihn als Berater zu gewinnen. Und Yuya Mizuno
nutzte bei seinem Europa-Trip die Möglichkeit, die Vorrunden-Spiele der
deutschen Mannschaft in Breslau zu besuchen, um mit DHB-Präsident Andreas
Michelmann und Vize Bob Hanning die Idee eines Trainingslagers der deutschen
Nationalmannschaft auf der Insel Okinawa in vier Jahren zu erörtern. „Olympia
ist eine Chance für uns. Viele Japaner zeigen großes Interesse an westlichen
Trends, vielleicht gelingt uns mit diesem sportlichen Großereignis der
Durchbruch. Zumal wir als Gastgeber auch auf der Platte stehen werden“, so
Akira Kajihara, der vor acht Jahren den sportlichen Sprung nach Deutschland
wagte. Im Alter von 10 Jahren dribbelte er das erste Mal mit dem Ball durch die
Halle des örtlichen Handballclubs seiner Heimatstadt Nagoya. Vereine sind in Japan
aber die Ausnahme, das Sportsystem für Kinder und Jugendliche ähnelt doch eher
dem der USA, wo Sport hauptsächlich an Schulen und Universitäten stattfindet.
Und die Mannschaften in der 1. und 2. Japan Handball League gehören
größtenteils zu großen Konzernen. So ist Toyota mit seinen Schwesterfirmen allein
viermal dort vertreten. Die Spieler gehen tagsüber einer geregelten Arbeit
nach, um abends zu trainieren. „Es gibt ein paar bekannte Spieler, die ihr Geld
ausschließlich als Profi verdienen. Ansonsten ist das eher schwierig. Unser
Sport ist im Fernsehen kaum präsent, einmal im Jahr gibt es im Dezember eine
Live-Übertragung vom Pokal-Finale. Wenn unsere Nationalmannschaft gegen
Südkorea spielt, steigt das Interesse. Die Rivalität hat historische Gründe. Beim
Qualifikations-Spiel für Peking 2008 fanden über 10.000 Zuschauer den Weg in
die Halle und das Fernsehen war live vor Ort. Dagegen wird das jährliche EHF-Final4
der Champions League zeitversetzt einige Monate später im Pay-TV gezeigt. Es
gibt ein paar Verrückte, die sich für den europäischen Handball interessieren.
Sie sind im Internet gut vernetzt“, erzählt Yuya Minzuno, dessen Verein der
einzige Erstligist ist, der sich nicht in Konzernhand befindet.
Zu diesen `Verrückten´ zählt zweifelsohne auch Akira Kajihara.
Geprägt von seinem Vater, der in der Schulmannschaft sein Trainer war, ist bei
ihm schon in der Kindheit der Traum gereift: Ich möchte Profi in Deutschland
werden. Denn Papa Kajihara hat ihm viel vom deutschen Handball erzählt, weil er
selber zu seinen aktiven Zeiten in der 1. japanischen Liga von einem deutschen
Coach trainiert wurde. Damit ist der Weg vorgezeichnet, mit 15 Jahren debütiert
der junge Akira in einer Jugendauswahlmannschaft, mit der er 1998 Landesmeister
wird. „Der Kinder- und Jugendhandball ist in meiner Heimat anders organisiert
als in Deutschland. Es gibt keinen Ligen mit wöchentlichen Spielen, sondern
dreimal im Jahr Qualifikations-Turniere. Erst auf Kreisebene, der Sieger spielt
anschließend um die Regionalmeisterschaft, um sich dort für das Endturnier zu
qualifizieren“, berichtet der sympathische Japaner.
Als Student kommt er seinem Traumziel näher: Es geht zweimal
auf `Exkursion´ nach Deutschland, um den Handball hierzulande hautnah erleben
zu dürfen. „Ich habe mir Bundesligaspiele in Flensburg, Kiel, Hamburg,
Magdeburg, Leipzig und Nordhorn – Ljubomir Vranjes hat damals bei der HSG
gespielt und ist nicht nur aufgrund der gleichen Körpergröße mein Vorbild -
angeschaut. Damals habe ich auch HSG-Präsident Jürgen Becker kennen gelernt.
Zurück in Japan war ich ziemlich angefixt von der 1. Bundesliga. Meine Eltern
haben gesagt: Wir unterstützen dich, aber zuerst beendest du dein Studium.“ Als
fertiger Bauingenieur ging es 2007 zurück ins Land des damaligen Weltmeisters.
„Ich habe Jürgen Becker eine Mail geschrieben: Darf ich bei euch mittrainieren?
Zurück kam die Antwort: Komm vorbei. Schlafen kannst du bei mir. Also habe ich ein
Visum beantragt, Sachen gepackt, und los ging´s! Drei Wochen lang habe ich bei
der HSG mittrainiert. Jener Mannschaft, die einige Monate später
EHF-Pokalsieger wurde. Eine Riesenerfahrung für mich. Durch Kontakte bin ich
dann zum Zweitligisten TV Emsdetten gekommen, wo ich ein Probetraining
absolviert habe. Mir wurde signalisiert, dass es dort klappen könnte. Zurück in
Japan – mein Visum war ablaufen – habe ich aber vergeblich auf eine Nachricht der
TVE-Verantwortlichen gewartet.“
Der Traum bekam einen Dämpfer, aber für den Handball-Nerd noch
längst kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Um eine längerfristige
Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, informiert sich Akira Kajihara über
Studienmöglichkeiten in Deutschland. „Da ist mir Münster und ein BWL-Studium in
den Sinn gekommen. Auch deshalb, weil es dort einen Handball-Zweitligisten
geben sollte. Dort angekommen, hat mich meine Gastfamilie erst einmal
aufgeklärt, dass im westfälischen Münster solch ein Verein nicht existiert. Wenig
später ist mir dann bewusst geworden, dass ich Monate zuvor den damaligen
Zweitligisten TSG Münster gegoogelt hatte, der in der Nähe von Frankfurt
beheimatet ist.“ Über den Verbandsligisten Sparta Münster findet der junge
Japaner einmal mehr den Weg ins 30 km nördlich gelegene Emsdetten. Sechs Jahre
mit sportlichen Höhen und Tiefen in der 1. und 2. Mannschaft folgen, das
Studium läuft nebenher. „Ich habe viel Zeit in den Handball investiert und mir damals
gesagt: Bis 30 versuche ich meinen Traum vom Handballprofi zu verwirklichen. Es
hat nicht ganz gereicht. Aber ich habe zwei Spiele für den TVE in der 1.
Bundesliga absolviert und dabei sogar ein Tor gegen den THW Kiel erzielt. Mein
absolutes Karriere-Highlight“, blickt er zurück.
Nach acht Jahren in Deutschland geht es für Akira Kajihara
in diesen Tagen zurück in die Heimat. Er wird hauptamtlicher Manager eines
Frauen-Erstligisten in Suzuka. Damit erfüllt er sich im Nachhinein den Traum
vom Berufs-Handball. „Der dortige Trainer rief mich vor einiger Zeit an und bot
mir die Stelle an. Dort werde ich noch viel Aufbauarbeit leisten müssen. Dabei
hilft mir das Know-how, das ich in Deutschland erworben habe. Was ich am
meisten bewundere: In der Bundesliga ist alles so gut strukturiert und die
Spiele werden sehr professionell aufgezogen. Das ist typisch Deutsch. Zudem ist
die Stimmung in den Hallen super.“
Auch in den kommenden Jahren will sich der Neu-Manager Zeit
nehmen, um dem alten Kontinent in Sachen Handball einen Besuch abzustatten.
Eine gute Gelegenheit dazu bietet sich schon im kommenden Jahr, wenn im Januar
in Frankreich die Weltmeisterschaft stattfinden wird. Dort wird auch die
japanische Nationalmannschaft zugegen sein, die sich jüngst durch das Erreichen
des Halbfinales bei den Asienmeisterschaften in Bahrain für die WM 2017
qualifizieren konnte.
Akira, ganbare!
Fotos: Dieter Dorn - Ryukyu Corazon - Max Sander