"Mit der grünen Wand in einen Flow spielen"

November 2016: Um einen Film über Stefan Kretzschmar zu drehen, besuchte ich mit meinem Team erstmalig die Rittal Arena in Wetzlar. Neben der ganzen Filmerei hatten wir zwischendurch ein paar Minuten Zeit, das Bundesligaspiel der HSG Wetzlar zu verfolgen. Dabei fiel uns sofort die Super-Stimmung in der Halle auf…. und ich fühlte mich an meine Besuche in der Flens-Arena erinnert. Was beide Arenen eint und diese in der 1. Bundesliga einzigartig macht: Beide verfügen jeweils über einen großen Stehplatzbereich hinter einem der Tore, auf dem ordentlich „Dampf“ gemacht wird. HSG-Geschäftsführer Björn Seipp hat in einem früheren Interview von einem positiven „Grundrauschen“ gesprochen, das sich stimmungsmäßig auf die anderen Tribünen überträgt.
Die ursprüngliche Idee, einen Film über rauschende Stimmung in der Rittal Arena zu drehen, mussten wir aufgrund des geltenden TV-Vertrages zu den Akten legen. Wir haben uns aber trotzdem auf `Spurensuche´ begeben und uns in Wetzlar sowie im übrigen Handball-Land umgehört.   

„Ich habe die Stimmung in der Rittal Arena, eine der schönsten Handball-Hallen Deutschlands, schon genossen, als ich noch gar nicht für die HSG Wetzlar auf der Platte stand und mit dem TV Großwallstadt oder  TSV Dormagen als Gast hier war. Es ist einfach toll, in dieser hitzigen Atmosphäre zu spielen und wenn die Stehplatztribüne die Halle zum Kochen bringt – als Heimmannschaft natürlich umso schöner. Das schlägt sich auf unser Spiel nieder, denn du gibst als Spieler automatisch ein paar Prozent mehr. Speziell in der zweiten Halbzeit, wenn dir die Kräfte ein wenig schwinden und wir die Fans auf den Stehplätzen im Rücken haben. In unserer Abwehrarbeit sind dann noch mehr Emotionen gefordert.“ [Max Holst, Linksaußen HSG Wetzlar] 

„Zum einen finde ich es sehr gut, dass die Fans in unserer Halle von allen Plätzen eine gute Sicht auf´s Spielfeld haben. Das gilt uneingeschränkt auch für unsere Stehplatztribüne hinter dem Tor. Dort entwickelt sich eine unglaublich gute Stimmung, die sich dann auf die gesamte Halle überträgt. Unsere Trommler geben den Impuls, die gesamte Halle zieht akustisch nach. Wenn Zuschauer während des gesamten Spiels stehen, entwickelt sich einfach eine deutlich höhere Fan-Aktivität. Unser Fanclub „Grün-Weiss“ hat aktuell um die 200 Mitglieder im Alter von 10 bis über 70 Jahren. Im Laufe der Jahre sind immer mehr Leute zu uns auf die Tribüne gestoßen, die uns in Sachen Stimmung unterstützen. Wir als Fanclub genießen viele Freiheiten und werden vom Hallenbetreiber Gegenbauer sehr gut unterstützt. Was ich bemerkenswert finde, dass es bei uns in Wetzlar keine überzogene Erwartungshaltung gibt und Verein und Fans recht realistisch einschätzen können, was die HSG zu leisten imstande ist.“ [Uli Moser, Orga-Team Fanclub Grün-Weiss] 

„Die Stehtribüne ist wichtiger, besonders lebendiger Bestandteil der Fankultur in den Arenen. Von dort geht eine emotionale Welle aus, die alle Zuschauer mitreißt und oft genug dazu beiträgt, dass das eigene Team in wichtigen Momenten zusätzliche Kräfte freisetzt. Hinzu kommt, dass sich insbesondere dort die jüngeren Fans zusammenfinden, die für den Handball eine zunehmende Bedeutung haben. Die Stehtribüne ist fester und gewollter Bestandteil unserer Sportart. [Frank Bohmann, Geschäftsführer DKB-Handball-Bundesliga]   

 „Ich kann mich noch an die Zeit zurückerinnern, als wir als Gast in der alten Halle in Dutenhofen gespielt haben. Schon dort gab es immer eine tolle Stimmung. Als die HSG dann in der neuen Arena gespielt hat, hat sich das weiterentwickelt. Mit über 4.000 Zuschauern war die Halle immer gut besucht, was keine Selbstverständlichkeit ist. Die Menschen in der Region sind vom Handball begeistert. Ich habe als Spieler viele Male dort gespielt, die Atmosphäre war immer eine ganz besondere. Speziell wenn ich mit der MT Melsungen dort zum Hessenderby aufgelaufen bin. Ich denke sehr gerne daran zurück. [Daniel Kubeš, ehemaliger Bundesligaspieler u.a. THW Kiel und MT Melsungen, heute Trainer Tschechische Nationalmannschaft und TV Emsdetten]     

„Traditionell ist die Stimmung in Wetzlar immer gut und mit der bei uns in der Flens-Arena vergleichbar, auch wenn die Rittal Arena ein wenig kleiner ist und die Stehplatztribüne hinter dem Tor noch nicht ganz so einen Kultstatus genießt wie unsere Nordtribüne. Ich weiß nicht, ob sich die Wetzlarer Bauherren bei der Planung der Halle von unserer inspirieren lassen haben. Es war auf jeden Fall eine gute Entscheidung der dortigen Planer. Für Auswärtsmannschaften war es in den vergangenen Jahren immer extrem schwer, in der Rittal Arena erfolgreich zu sein. Das liegt zum großen Teil auch an der Unterstützung der HSG-Fans während der 60 Minuten. Ich mag Hallen, in denen die Leute stehen. Wenn wir mit der SG in der Champions League in Osteuropa unterwegs sind, gibt es dort einige Hallen, in der alle Fans trotz Sitzplätzen das gesamte Spiel stehen und es stimmungsmäßig richtig abgeht.“ [Dierk Schmäschke, Geschäftsführer SG Flensburg-Handewitt] 

„Ich finde, dass die Stimmung auf unserer Stehplatztribüne mit der auf der Südtribüne von Borussia Dortmund vergleichbar ist. Unsere grüne Wand ist für mich immer wieder beeindruckend. Die Fans dort sind unglaublich engagiert und treiben meine Mannschaft immer wieder an – gerade wenn es einmal nicht so läuft. Ich kenne einige der Anführer auf der Stehplatztribüne. Sie und auch die anderen Fans verstehen unsere Situation, die häufig vom Abstiegskampf geprägt ist. Gerade für meine jungen Spieler ist dieser Support unglaublich wichtig und gibt ihnen während der 60 Minuten Sicherheit. Unsere Erfolge in den vergangenen Jahren wären ohne die Unterstützung unserer Fans nicht denkbar. Die Rittal Arena ist beim Gegner gefürchtet, dadurch konnten wir so einige Top-Mannschaften vor heimischer Kulisse in die Knie zwingen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Underdog in der Handball-Bundesliga eine Mannschaft aus der Spitzengruppe schlägt, liegt bei gerade mal 5 %. Zum Vergleich: In der Fußball-Bundesliga liegt dieser Wert bei 25 %. Bedeutet: Freiburg hat eine 20 % höhere Chance, gegen Bayern München zu gewinnen, als wir gegen den THW Kiel. Und trotzdem konnten wir in unserer Halle schon häufiger gegen Spitzenmannschaften erfolgreich sein. Dank des Heimvorteils, dank der Stimmung. In den eigenen `vier Wänden´ zu spielen und dort in Interaktion mit den Fans zu treten, dadurch kann sich meine Mannschaft in einen Flow spielen. Dann ist vieles möglich.“ [Kai Wandschneider, Trainer HSG Wetzlar] 

„Als damals die Rittal Arena geplant wurde, war ich in die Entscheidungsprozesse nicht eingebunden, da ich noch nicht als Geschäftsführer für die HSG Wetzlar tätig war. Ich glaube aber, dass die Flens-Arena bei der Planung unserer Halle eine gewisse Vorbildfunktion gespielt hat und somit auch bei uns eine große Stehplatztribüne installiert wurde. Unsere Fans hinter dem Tor wie in der gesamten Halle haben ein unglaublich gutes Gespür dafür, was unsere Mannschaft leisten kann und was die Jungs auf dem Spielfeld in der jeweiligen Situation brauchen. Sie werden nicht müde in ihrer Unterstützung, auch wenn wir mal deutlicher zurückliegen. Es herrscht der Grundsatz: In guten wie auch in schlechten Zeiten, wir stehen zusammen! Pfiffe oder vor dem Schlusspfiff nach Hause gehen gibt es bei uns in der Rittal Arena nicht. In den vergangenen Jahren und auch in dieser Saison mussten wir jeweils mit etlichen Neuzugängen eine neue Mannschaft formen. Gerade für junge Spieler ist diese Unterstützung und Rückendeckung von den Rängen extrem wichtig, um sich an die 1. Bundesliga zu gewöhnen. Doch nicht nur in Sachen Stimmung ist unsere Stehplatztribüne für uns von großer Bedeutung. Mit einem moderaten Eintrittspreis für Jugendliche von 8 € für einen Stehplatz, der seit Jahren konstant ist, haben wir es in den vergangenen Jahren geschafft, viel Fan-Nachwuchs zu uns in die Halle zu holen. Dadurch hat sich der Altersdurchschnitt unseres Publikums deutlich gesenkt. Die jungen Leute treffen sich auf der Tribüne, sind unter sich und geben während des Spiels ordentlich Gas. An dieser Preisstrategie möchten wir in diesem Bereich auch in den kommenden Jahren festhalten. Betriebswirtschaftlich würde es mehr Sinn ergeben, wenn wir hinter beiden Toren Sitzplätze vermarkten könnten und unsere GmbH dadurch einen unternehmerischen Mehrwert durch höhere Ticketpreise hätte. Wir würden uns meines Erachtens aber ins eigene Fleisch schneiden. Denn die Stimmung auf der Stehplatztribüne ist mit Geld nicht zu bezahlen. Allen voran kommt durch die Trommler unseres Fanclubs „Grün-Weiss“, der nicht nur als Taktgeber während des Spiels fungiert. Der Club engagiert sich auch sehr rund um die HSG Wetzlar, unterstützt uns auch bei vielen organisatorischen Dingen wie zum Beispiel beim Abbau nach dem Spiel. Wir feiern zusammen auch Feste. Da fällt mir ein: Es wird mal wieder Zeit für ein Kabinenfest.“ [Björn Seipp, Geschäftsführer HSG Wetzlar]


Fotos: Peter Frank - HSG Wetzlar


Autor: Max Sander

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